Lenzburg ist reich an alten Geschichten und Traditionen. Kein Wunder, denn Stadt und Region haben eine wechselvolle Geschichte erlebt. Die sagenhaften Erzählungen entsprangen meist historischen Ereignissen – oder der Fabulierlust manch eines Autors. So stossen etwa Kompendien der beiden Lenzburger Arnold Büchli (1885–1970) und Nold Halder (1899–1967) scheinbar Türen zu einer Parallelwelt auf, die uns im Alltag verborgen bleibt.
Mit dem Sammeln und Weitergeben von Geschichten über Generationen ist spätestens seit Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) und seinen Zeitgenossen, der Brüder Jacob (1785–1863) und Wilhelm Grimm (1786–1859) sein, ein Auftrag verbunden: die Bewahrung des immateriellen Kulturerbes und dessen Weitergabe.
Jubiläum als Ausgangspunkt
Das Museum Burghalde widmet sich in seiner Sonderausstellung «Sagenzauber» den alten Erzählungen und stellt die prominentesten Sagensammler aus dem Aargau vor. Nold Halder gehört bestimmt dazu, hat er doch neben seiner Schreibtätigkeit die Vereinigung für Natur und Heimat mitbe-gründet (1928) und war erster Herausgeber der «Lenzburger Neujahrsblätter» (ab 1930). Auch an der Gründung des Lenzburger Heimatmuseums (1937, heute Museum Burghalde) war Halder massgeblich beteiligt. Sein Buch «Aus einem alten Nest» mit Lenzburger Sagen feierte im vergangenen Jahr das hundertste Jubiläum.
Alte Erzählungen neu belebt
Mit ChatGPT, Midjourney, Sora, Stable Studio und weiteren Anwendungen hat künstliche Intelligenz (KI) eine Fülle an neuen Möglichkeiten eröffnet, und zwar auf beinahe allen sensorischen Kanälen. Wie stark KI seit wenigen Monaten einen enormen Aufschwung erlebt und sowohl im Kreativ- oder im IT-Bereich als auch in den Wissenschaften Wege dafür bereitet, bisher unbekannte Varianten, Formen und Forschungsmethoden zu generieren und zu nutzen, ist faszinierend – aber auch erschreckend. Sinn- und wirkungsvoll eingesetzt, lässt sich das enorme Potenzial obgenannter Technologie für die Vermittlung einsetzen. Immersive Welten entstehen und lassen uns in multisensorisch neu belebte Erzählungen eintauchen.
Immaterielles Kulturgut als Identitätsaspekt
Im Rahmen von DigiProject, einem jungen Fördergefäss des Kantons Aargau, hat das Museum Burghalde auch für das aktuelle Thema den innovativen Weg gewählt. Der Sprung von analog zu digital und von Tradition zu Innovation wird mehrfach inszeniert und dem interessierten Publikum über verschiedene Vermittlungsformate zugänglich gemacht. Auch im Zeitalter von Augmented Reality (AR), Virtual Reality (VR) und QR-Codes dreht sich im Grunde genommen alles um Dichtung und Wahrheit, ganz im Sinne der alten Erzählungen. Letztlich trägt die digitale Neuinszenierung von Sagen und Legenden, Mythen und Märchen zu deren Bewahrung bei.
Sagen würfeln
Neben der Outdoor-Murmelbahn mit künstlerischen Sagen-Holzfiguren und der musealen Ausstellung haben wir einen digitalen Sagen-Generator entwickelt. Derselbe Zauberer, der sich im Ausstellungssaal mittels Smartphone aus den opulenten Barockspiegeln hervorzaubern lässt, lädt die Besuchenden nun zum Würfelspiel ein. Jeder Wurf erzeugt eine einmalige Sage. Aus stereotypen Sagenfiguren und -tieren, Orten und Epochen generiert die künstliche Intelligenz einen Text – in der zuvor gewählten Stimmung. Die unglaubliche Kreativität, mit der die Sagentexte verfasst sind, verblüfft. Es braucht ein gewisses Gespür und Allgemeinwissen, um die «falschen», sprich: neu generierten, von den historisch tradierten Sagen zu unterscheiden. Doch was heisst schon «falsch»? – Irritierend ist vielmehr die vermeintliche Originalität durch die ungewohnten, aber zumeist sinnvollen Wortkombinationen, die letztlich auf rein mathematischer Berechnung von ChatGPT basieren.
Was bedeutet dies für unseren Alltag, für unsere Gesellschaft und für unser Selbstverständnis, wenn plötzlich auf Knopfdruck in Sekundenschnelle generiert wird, was nach menschlicher Zeitrechnung Stunden, Tage, gar Wochen oder Monate geistiger Vertiefung erfordert?
In diesem Kontext erfreuen sich nun Hunderte neuer Texte grosser Beliebtheit und buhlen um die Wette hinsichtlich Originalität.
Freuen Sie sich auf die schönsten Kreationen, gefasst als bezugsbereites Kompendium. Drei aussergewöhnliche Texte finden sich bereits in dieser Publikation, gegen Schluss des Buches.
Meinen Vorgängern im Museum, Nold Halder als erstem Konservator und Initianten des Heimatmuseums sowie Edward Attenhofer als einstigem Konservator, schliesslich Präsidenten der Stiftung Heimatmuseum, zolle ich grossen Respekt für ihre unermüdliche Suche und die Verschriftlichung und Verbreitung alten Erzählguts.
Die drei Urgesteine Urs F. Meier, Stiftungsratspräsident seit biblischen vierzig Jahren, Christoph Moser, alt Stadtschreiber und Vizepräsident der Stiftung Museum Burghalde, sowie Heiner Halder, ehemaliger Stiftungsrat und heutiges Ehrenmitglied, seien verdankt für ihr beharrliches Recherchieren, Sammeln und Vermitteln. Sie tragen stets zur Stärkung des kulturhistorischen Gewissens und damit zur Identität von Stadt und Region Lenzburg bei.