Als ich mich vor vier Jahren im Rahmen von Ausstellungsvorbereitungen zu einem ersten Atelierbesuch bei Letizia Enderli aufmachte, hätte ich nicht erwartet, dass es einer jener seltenen Tage voller grossartiger künstlerischer Überraschungen werden würde. Denn das Setting war eigentlich klar: Wir hatten uns zu einer «Teestunde» verabredet, um gemeinsam in die Poesie von Blüten, Blättern und Kräutern einzutauchen. Alsbald wurde klar, dass da «viel» ist, aber eben auch noch wesentlich «mehr» war: Tage voller Erinnerungen, gebündelt und in liebevoll arrangierte Pakete verpackt, Eisenplastiken mit kraftvollen Motiven und tragenden Symbolen, zusammengebundene Konglomerate aus Steinen, Ästen und anderen bearbeiteten und unbearbeiteten Fragmenten, transformiert in ein künstlerisches Werk. Weiter waren da kunstvoll gewobene Teppiche und natürlich die Fotografien. Schlicht: ein spannungsvolles, poetisches und persönliches Universum voller Geheimnisse, Geschichten und Spuren.
Mit Letizia Enderli auf Spurensuche zu gehen, ist unterhaltsam und inspirierend. Denn in ihrem Werk geht der gewichtige Gedanke mit einer tänzerischen Leichtigkeit einher. Vergangenheit und Gegenwart verweben sich im Hier und Jetzt. Die künstlerische Konzeption entsteht aus der ebenso freimütigen wie lebenslustigen Assoziation und manifestiert sich in einem kohärenten, fesselnden Gesamtwerk. Hat man die Fährte einmal aufgenommen, ist es ein willkommenes Unterfangen, Enderlis Spuren und Pfaden durch Tiefen und Untiefen nachzugehen, um auf diesem Wege bis anhin Verborgenes aufzuspüren.
Die inzwischen mehrjährige Spurensuche in ihrem künstlerischen
Universum bildet sodann auch den Anlass für dieses Buch. Es ist der gemeinsame Versuch, ihr noch immer täglich anwachsendes Werk so umfangreich wie möglich zu dokumentieren und mit anderen zu teilen.
Die Autorenschaft dieser Publikation versucht, in den folgenden Texten Letizia Enderlis Schaffen aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. In ihrem Essay «Räume» nähert sich etwa die Psychoanalytikerin Jeannette Fischer dem Gesamtwerk vom psychologischen Standpunkt aus, während die Kunsthistorikerin
Marianne Karabelnik in «Teatime» die Berührungspunkte der Physik und der Lyrik vor dem Hintergrund des sinnlichen Teegenusses auslotet. Mittels einer philosophischen Herangehensweise richte ich meinen Blick aus kulturhistorischer Perspektive auf Letizia Enderlis Werk und versuche, eine Einordnung in die europäische Kunstgeschichte und ins Kunstverständnis des asiatischen Raumes vorzunehmen.
Andrin Schütz, Mai 2022